Performances

Im Rahmen von Museum Tinguely AHOY! wurde ein vielseitiges und hochkarätiges Performanceprogramm angeboten. Es umfasste drei Performances, mit denen wir an einem der beiden Tage bei der jeweiligen örtlichen Partnerinstitution zu Gast waren. Hierfür wurde bei den international renommierten Künstlerinnen Nevin Aladağ (DE), Keren Cytter (IS) und Marie-Caroline Hominal (CH) jeweils ein neues Stück für in Auftrag gegeben. Die gewählten Performances bilden ein Spektrum unterschiedlicher performativer Ansätze ab und sind in den verschiedenen Bereichen, Musik, Theater und Tanz verwurzelt. Sie stehen damit im Bezug zu den vielseitigen performativen Praktiken Jean Tinguelys ebenso wie zu der von ihm angestrebten Verbindung von Kunst und Leben.

Das Performanceprogramm im Rahmen von Museum Tinguely AHOY! wurde kuratiert von Dr. Sandra Beate Reimann.
 

Die Performance von Nevin Aladağ, Body Instruments, 2021 an der Anlegestelle im Parc de la Villette Foto: Matthias Willi

Die Performance von Nevin Aladağ, Body Instruments, 2021 an der Anlegestelle im Parc de la Villette
Foto: Matthias Willi
 

Body Instruments
von Nevin Aladağ

Mit der Performance Body Instruments (2021) führt Nevin Aladağ ihr Interesse an instrumentalen Interventionen fort. Eine Performerin oder ein Performer trägt spezifisch angefertigte Musikinstrumente am Körper und bewegt sich damit im Stadtraum. Die Instrumente, zwei Akkordeons, Schellen und ein auf dem Kopf getragenes Perkussionsinstrument, werden durch die Körperbewegungen gespielt. Bereits grundlegende Bewegungen, wie Gehen, Drehen des Kopfes oder Heben und Senken der Arme, erzeugen musikalische Klänge. Der ergänzte Körper wird so selbst zum Instrument. Untrennbar ist Bewegung mit Klangerzeugung verknüpft.

Die Arbeit nimmt einerseits Bezug auf kunsthistorische Traditionen, etwa auf die moderne Avantgarde mit Oskar Schlemmers Das Triadische Ballett (1919–1922), dessen spielerischen Umgang mit geometrischen Formen im Zusammenhang mit Tanz und Performance die Künstlerin bereits als Schülerin in der Staatsgalerie Stuttgart entdeckten konnte. Ebenfalls wichtig sind Referenzen zur Performance der 1970er Jahre. Die sich gleichsam zu Flügeln ausfaltenden Akkordeons und der Balance und Körperbeherrschung erfordernde Rainmaker-Hut von Aladağs Arbeit verweisen insbesondere auf die Körperinstrumente Rebecca Horns (z. B. Weisser Körperfächer, Balancestab, beide 1972). Die dort verhandelten Fragen nach dem Verhältnis von Körper und Bewegung und den Potentialen von skulpturalen Körperergänzungen verfolgt Body Instruments im Hinblick auf Klang weiter.

Ihre Aktualität und Prägnanz erhält Body Instruments, indem Aladağ jene kunsthistorischen Ansätze und Formensprachen anwendet und zugleich mit historischen und gesellschaftlichen Bedeutungsdimension durchwirkt. So verweist die Arbeit auf die vielfältigen Traditionen von Klangerzeugung im öffentlichen Raum, die von mittelalterlichen Narrenschellen, das Märchen vom Rattenfänger, über sakrale wie profane Prozessionsbräuche bis hin zur modernen Strassenmusik reichen. Mit der Figur der Strassenmusikerin oder des Strassenmusikers werden zugleich auch Fragen nach sozialem Status und nach der gesellschaftlichen Verhandlung über die Nutzung des öffentlichen Raums aufgerufen. Mit Schellen, Akkordeon und den zwei verschiedenen Trommelformen vereint die Performance aus unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Kontexten stammende Instrumente. Ihr gemeinsames Charakteristikum ist, dass sie alle jenseits der klassischen Musik westlicher Prägung zu verorten sind. Im Zusammenspiel entsteht so ein Stück experimenteller Musik, das zwischen zwingend-notwendigen, beispielsweise beim Gehen erzeugten Tönen und bewusst eingesetzten Bewegungen und poetischen Klängen balanciert.
 

Credits
im Auftrag von Museum Tinguely, Basel im Rahmen von Museum Tinguely AHOY!
Konzept und Choreographie: Nevin Aladağ
Performer: Przemek Kamiński, Darko Radosavljev
Kuratorin Museum Tinguely: Dr. Sandra Beate Reimann
Produktionsmanager: Attila Gaspar

Body Instruments interpretiert die klassischen und folkloristischen Instrumente auf eigensinnige Art am Körper der Musizierenden immer in Bewegung und nie leise.

Nevin Aladağ

Über die Künstlerin
Die seit 2002 in Berlin lebende Künstlerin Nevin Aladağ (*1972) nutzt für ihre Arbeiten Skulptur, Video und Fotografie. Sie kreiert Performances und skulpturale Installationen im Museum ebenso wie im öffentlichen Raum. Aladağ ist in Stuttgart aufgewachsen. Sie studierte von 1993 bis 2000 Bildhauerei bei Olaf Metzel an der Akademie der Bildenden Künste in München.

Ihre Werke wurden zuletzt unter anderem in Einzelausstellungen im Lehmbruck Museum Duisburg (2021), dem Museum of Modern Art San Francisco (2020) und der Hayward Gallery, London (2020) gezeigt. Besondere Aufmerksamkeit erhielten Aladağs Arbeiten insbesondere durch ihre Teilnahme im Jahr 2017 an der documenta 14 in Athen und Kassel und an der 57. Biennale von Venedig. 2017 erhielt die Künstlerin den Ernst-Rietschel-Kunstpreis für Skulptur in Dresden.

Die Performance von Marie-Caroline Hominal, Eurêka, c'est presque le titre, 2021 im Centre Pompidou Foto: Matthias Willi

Die Performance von Marie-Caroline Hominal, Eurêka, c'est presque le titre, 2021 im Centre Pompidou
Foto: Matthias Willi

Eurêka, c'est presque le titre
von Marie-Caroline Hominal

Marie-Caroline Hominal verkörpert in ihren Werken häufig Tiere oder fiktionale Figuren, die sie kulturellen Traditionen ebenso wie der Pop-Kultur und der Welt der Cartoons entlehnt. Ihr neues Stück, das sie für das Performanceprogramm von Museum Tinguely AHOY! entwickelt hat, ist ein Solo, das sie selbst tanzt. Eine kreisrunde Fläche bildet die Bühne – man könnte auch sagen Manege –, auf welcher Hominal nacheinander in verschiedene Rollen schlüpft.

Das Stück mit dem sprechenden und zugleich augenzwinkernden Titel, Eurêka, c'est presque le titre (2021), beginnt mit dem Bericht eines Traums, in dem sie mit John Cage Schach spielt. Inspiration bildet hierfür auch die Biografie von Jean Tinguely. Als zeitgenössische Äquivalente von Niki de Saint-Phalle oder dem Schweizer Rennfahrer Jo Siffert berichtet sie von Cardi B oder Lewis Hamilton. Neben dem tänzerischen Spiel mit abstrakten Formen folgen unter anderem Darstellungen von Charakteren, etwa einer Frauenfigur – zwischen Hexe und mexikanischer La Catrina –, eines Tigers sowie eine undefinierbare, glitzernd haarige Kreatur, die zwischen Lebewesen und Objekt changiert. Dabei aktualisiert Hominal die Fabel- und Fantasiefiguren vermittels Gestik und einem Bewegungsrepertoir, das sie Alltags- und Popkultur entnimmt.

Bewegung und Zirkularität als Vorraussetzung unserer Existenz, symbolisch präsent als Sonne und Mond – letzterer wird im silbrigen, kreisrunden Tanzboden evoziert –, liegen dem präsentierten Reigen zugrunde. Körper, Skulptur und Gestirne verbinden sich in Tanz und Bewegung. Das Ewige und Permanente, wie sie die Himmelskörper repräsentieren, vereinigt sich mit dem Momentanen, dem zeitgenössischen Spektakel zu einer machine infernale.

Im Laufe der Performance agiert die Künstlerin mit verschiedenen Fundobjekten. Diese beginnen während der Aufführung wie zufällig eine installativen Assemblage zu bilden. Mit dem Begriff der Assemblage lässt sich zugleich auch die Konzeption des Stücks selbst beschreiben: Die einzelnen von Hominal selbst als Nummern bezeichneten Sequenzen fügen sich sukzessive zu einem bunten und doch stimmigen Gesamtbild einer bewegten und tragisch-komischen imaginären Welt: ein kosmischer Zirkus zwischen Show-Business und Avantgarde-Kunst.

Credits
im Auftrag von Museum Tinguely, Basel im Rahmen von Museum Tinguely AHOY!
Konzeption und Choreographie: Marie-Caroline Hominal
Performer*in: Marie-Caroline Hominal
Kuratorin Museum Tinguely: Dr. Sandra Beate Reimann
Produktionsmanager: Attila Gaspar

Die erste Geste, ob eine Bewegung, ein Gesichtszug oder eine Konstruktion, ist immer der Anfang einer Geschichte.

Marie-Caroline Hominal

Über die Künstlerin
Die Französisch-Schweizerische Künstlerin Marie-Caroline Hominal (*1978) arbeitet und lebt in Genf. Ihre künstlerische Praxis umfasst Tanz, Choreographie, Video, Text, Zeichnung, Skulptur und Radio. Nach ihrer Ausbildung an der ZHDK TanzAkademie in Zürich und der Rambert School of Ballet and Contemporary Dance in London tanzte Hominal unter anderem mit Gisèle Vienne, Gilles Jobin, La Ribot, Marco Berrettini und am Tanztheater Basel. Seit 2002 realisiert die Künstlerin ihre eigenen Werke und tourt mit ihren Stücken weltweit in Theatern, Museen und Galerien. 2019 wurde Hominal als «Herausragende Tänzerin» mit dem Schweizer Tanzpreis ausgezeichnet.

Die Performance von Keren Cytter, The Lady of the Lake, 2021 im Centre Pompidou Foto: Matthias Willi


Die Performance von Keren Cytter, The Lady of the Lake, 2021 im Centre Pompidou
Foto: Matthias Willi

The Lady of the Lake
von Keren Cytter

In ihren Geschichten greift Keren Cytter gesellschaftliche Entfremdung, die Banalitäten und den Horror des Alltags, insbesondere denjenigen zwischenmenschlicher Beziehungen, auf. The Lady of the Lake (2021) ist ein Theaterstück, das Cytter für Museum Tinguely AHOY! geschrieben hat. Es handelt sich um einen Dialog, der keiner ist, und von den Schauspieler*innen Fernanda Farah und Damian Rebgetz aufgeführt wird.

Das Stück kombiniert Storytelling, Gesang, Tanz und Stand-up-Comedy. Inspiration bildeten hierbei unter anderem auch die Biografien der Schauspieler*innen. In Monologen adressieren die beiden Personen das Publikum und erzählen von prägenden Ereignissen und der Entwicklung ihrer Lebensgeschichte: Etwa von der Mitgliedschaft im Ruderclub in der Kindheit «Can you imagine how it feels to be in a club you don’t want to be in, doing a sport you didn’t know it even existed? It’s called childhood, I know.»; oder von den fünf Ehemännern, vom Winzer, Parfümeur, Jazzmusiker, Kinderarzt bis zum Journalisten. Dabei verlaufen die Monologe wie Linien, die sich teilweise kreuzen und stellenweise parallel verlaufen. Die Charaktere fallen sich gegenseitig ins Wort und drängen sich störend in den Vordergrund. Für Momente entsteht hin und wieder ein echter Dialog zwischen den beiden, der jedoch sofort wieder in getrenntes Sprechen zerfällt.

Der stechend scharfe und teils absurd komische Text mäandriert geleitet von Assoziationen inhaltlicher wie klanglautlicher Art ebenso wie von den Bewegungen der Spielenden. Immer wieder kommentiert die oder der andere wie ein «physisches Echo» gestisch die Erzählung oder greift ihre oder seine Gesten auf. Zusammengehalten wird diese Textur durch zwei stets wiederkehrenden gestische Elemente – eine Ruderbewegung und eine mit «Ahoi» kommentierte Armbewegung – sowie durch das am Boden applizierte Pentagramm, welches die Bewegungen der Schauspieler*innen im Raum leitet: Ein Hin und Her innerhalb der geschlossenen Figur des Kreises. Mit Kommentaren zu theatralen Elementen oder etwa zur Performance Art «more elegant, more intelligent ... than theater», bricht das Stück scheinbar mit dem Spiel und kommentiert sein Medium selbstreflexiv.

Verwebt in den Text hat die Künstlerin ihre prägnanten Metaphern und präzisen Analysen unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Mit trockenem Humor und zugleich schmerzhaft lässt uns Cytter mit ihrem Stück auf unsere singularisierte und performative soziale Gegenwart blicken.

Credits
im Auftrag von Museum Tinguely, Basel im Rahmen von Museum Tinguely AHOY!
Text und Regie: Keren Cytter
Liedtexte: Keren Cytter
Liedkomposition: Andreas Schlaegel
Schauspieler*innen: Fernanda Farah und Damian Rebgetz
Kuratorin Museum Tinguely: Dr. Sandra Beate Reimann
Produktionsmanager: Attila Gaspar

Ich habe versucht eine Performance zu entwickeln, die so viele theatralische Elemente wie möglich enthält und zugleich nichts behandelt.

Keren Cytter

Über die Künstlerin
Keren Cytter (*1977) studierte von 1997 bis 1999 am Avni Institute for Art in Tel Aviv und von 2002 bis 2004 mit einem Stipendium bei De Ateliers in Amsterdam. Nach einer Zeit in Berlin von 2005 bis 2012, lebt und arbeitet sie seitdem in New York. Die Künstlerin ist bekannt für ihre Videoarbeiten, Theaterstücke und Zeichnungen. 2012 gründete sie die Tanzkompanie D.I.E NOW (Dance International Europe Now). Darüber hinaus hat sie fünf Romane und drei Kinderbücher verfasst.

Die Werke der Künstlerin wurden in Einzelausstellungen unter anderem im Kunstmuseum Winterthur (2020), Center for Contemporary Art, Tel Aviv (2019), Museion Bolzano (2019), Museum of Contemporary Art Chicago (2015) und der Kunsthal Charlottenborg, Kopenhagen (2014) gezeigt. 2021 wurde das Guggenheim Fellowship an Keren Cytter vergeben.