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Jean Tinguely


Mengele – Totentanz

1986

Material/Technik: Eisenschrott, Erntemaschinen der Firma Mengele (Augsburg), Hippopotamus-Schädel, Elektromotoren
Masse (HxBxT): 300 x 440 x 420 cm
Inventarnummer: 11285
Werkverzeichnis: Bischofberger 0703
Creditline: Museum Tinguely, Basel

Am 26. August 1986 ereignet sich in Neyruz in unmittelbarer Nähe von Tinguelys Atelier der dramatische Brand eines Bauernhofes. Der Künstler schildert uns das grauenvolle Ereignis, welches ihn zum Werkzyklus des «Mengele-Totentanzes» inspiriert. «Es war ein schöner Tag. Es hatte vierzehn Tage nicht mehr geregnet. Sämtliche Ernte war unter Dach, auch bei Herrn Dafflon in seinem schönen, alten Bauernhof von 1801. Um zwei Uhr nachts wurde dieses Haus vom Blitzschlag getroffen. Wir wachten auf vom Knall, und es wurde rot. Keine zwei Minuten vergingen, und alles brannte lichterloh. Der Blitz ging wie ein Kugelblitz an der Leitschiene im Holzgerüst vom Bauernhaus hin und her und hob explosionsartig die Ziegel vom Dach. Es war ein fürchterlicher, totaler Brand, ein dramatisches, erotisches Höllenerlebnis. Die Menschen kamen von überall her, wie gebannt. Im Stall waren nur der Stier und sieben Kälber. Der Stier versperrte den Ausgang, verletzte vermutlich die Kälber, und alle kamen um. Der Rest des Viehs war um diese Jahreszeit noch auf der Weide oder auf der Alp. Das Haus brannte bis am Morgen, dann kam zwei Tage und zwei Nächte lang der fürchterliche Gestank dieser verbrannten Leichen. Der Brandherd war so heiss, dass man ihn nicht einmal mit dem Bulldozer hätte aufwühlen können. Es war die Hölle, es war teuflisch. Dann kam die Trauer, denn es war ein schönes Haus gewesen. Den ersten Schritt machte ich intuitiv: ich kaufte Stahlkappenschuhe und fragte für Überreste aus diesem Trümmerhaufen. Ich begann, aus diesem lauwarmen Mist Eisenstücke herauszuziehen, aber wusste nicht, warum. Ich wusste nur eines, ich wollte nicht, dass Regen darauf fiel und Rost sich ansetzte. Diese Eisen waren nicht nur verbogen, sondern hatten durch den Brand einen Schutz, eine Art Verglasungs-Chemikalien-Phänomen von der ungeheuren Heumenge, die verbrannt war. Es sah so schauerlich aus, dass es für mich wie von einem deutschen Konzentrationslager kam. Das Karbonisierungsphänomen war für mich ein schreckliches Erlebnis, das Kuhfleisch hätte auch Menschenfleisch sein können. Die ganze Konzentrationslagerverbrennungskatastrophe spürte ich plötzlich wieder darin. Das Grau dieses Materials inspirierte mich. Ich arbeitete mühsam eine Woche lang, Stück um Stück kam auf einen Armeewagen und wurde bei mir unterm Dach vorm Regen geschützt untergebracht. Ich war wie besessen, arbeitete mit traumwandlerischer Sicherheit. Sogar aus der späteren Abfallgrube holte ich noch Stücke heraus. Das letzte Stück war das grosse Maismaschinenungeheuer, dort stand zweimal noch ‹Mengele› drauf, der Name dieser Naziarzt-Familie. Die Idee war mit dieser Maismaschine, die so schrecklich aussah, da.» (Aus einer Tonaufnahme von 1986) Die sich aus vierzehn Maschinenplastiken zusammensetzenden Totentanzgruppe erhält den Namen «Mengele». Die Doppeldeutigkeit dieses Namens dient Tinguelys Vorstellungen von Qual, Sterben und Tod. Er beginnt ein gespenstisches Flügelwesen, eine dunkle Fledermausfigur mit mühsamen, langsamen Bewegungen zu bauen und sieht immerdar die Schlachthofatmosphäre des Brandereignisses vor sich. Ein von Bernhard Luginbühl stammender grosser Hippopotamus-Schädel verwandelt das Ungeheuer in einen personifizierten Dämon. Der gleiche Schädel hatte kurz zuvor als Kopf der «Monsterhexe» im Zug der «Kuttlebutzer»-Clique an der Basler Fasnacht gedient. Nun ist er die Seele des Altar-Monsters. Er nickt dem Betrachter lockend zu und fordert ihn auf, sein Reich der Schatten und Gespenster zu betreten. Die Kopfbewegung ist zwar deutlich einladend, doch fixiert der Künstler seine Schädel stets an lockeren Draht- oder Federkonstruktionen und erlangt so eine freie, unpräzise Wackelbewegung, was die Lebendigkeit der Maschinenwesen erhöht. Der Dämon besitzt gewaltige Vorderbeine mit Widerhaken, die sich öffnen und den Blick ins Innere gewähren. Die sinnliche, vulvaartige Form macht ihn zum diabolischen Verführer. Vier Ministranten gestikulieren vor dem Koloss, «Der Fernseher», «Die Schnapsflasche», «Die Gemütlichkeit» und «Der Bischof». Tinguely bezeichnet sie als «Seitenbegleitung» und beschwört damit das Bild der Kirche und der katholischen Liturgie herauf. Ihre Requisiten stammen aus dem niedergebrannten Bauernhof. Als Tinguely das gewaltige Altarwerk mit den vier Ministranten schuf, erkannte er weder dessen spätere Schlüsselstellung innerhalb des Totentanzes, noch dachte er an einen solchen Werkzyklus. Der Künstler schöpfte die Maschinen aus den Überresten der Brandstätte wie in einem Rausch ohne Ziel und Zweck. Das verkohlte Material und ein obsessives Arbeitsfieber nahmen seine kreativen Kräfte total in Besitz. Erst später, nachdem die Maschinenplastiken vollendet waren, begriff Tinguely den eigentlichen Sinn des Werkensembles. Er hatte aber den «Mengele Hochaltar» und «Die Sonne» bereits der F. Hoffmann-La Roche AG verkauft. So begann er zusammen mit Paul Sacher und Fritz Gerber eine Gruft oder Kapelle auf dem Schönenberg bei Pratteln zu planen, um der ganzen Gruppe einen angemessenen Ausstellungsraum zu schaffen. Zudem plante er, noch weitere Werke zu schenken. Der Gedanke an einen neuen Totentanz-Zyklus in Basel erfüllte den Künstler ganz, hatte doch die mittelalterliche Darstellung des Basler Totentanzes auf der ehemaligen Kirchhofmauer des Dominikanerklosters seinen Sinn geleitet und seine Vision geprägt.

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Sammlung Museum Tinguely

In der Sammlung des Museum Tinguely sind Arbeiten aller Phasen und Werkgruppen von Jean Tinguely vertreten. Zusammen mit temporären Leihgaben ermöglichen sie den Museumsbesuchenden einen umfangreichen Überblick über das Schaffen des Künstlers. Neben den Skulpturen befindet sich eine Vielzahl von Zeichnungen und Briefzeichnungen, Dokumenten, Ausstellungsplakaten, Katalogen und Dokumentationen sowie Fotografien in der Sammlung des Museums. Alle Bestände sind – soweit möglich – öffentlich zugänglich und werden regelmässig sowohl in der permanenten Ausstellung im Museum Tinguely wie auch als Leihgaben in Ausstellungen auf der ganzen Welt gezeigt.

Die Museumssammlung entstammt einer grosszügigen Gründungsschenkung der Witwe des Künstlers Niki de Saint Phalle, aus der Sammlung von Roche, grösseren und kleineren Schenkungen sowie verschiedenen Ankäufen.

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